Ein Grund, warum die Orgel in die toggenburgischen Firstkammern kam
Ein Grund, warum die Orgel in die toggenburgischen Firstkammern kam
Als Bräker ein kleiner Bub war, musste er jeweils in die Scheftenau hinunter, an der Hand seiner Grossmutter, mit in die Predigt. Dort gab es einen Mann, der vor allem weibliche Herzen ansprach, an sich zog, in Bann schlug und erbaute.
Damals gab es viel fromme Leuthe daherum. Mein Vater, Grossvater, und andere Männer, sahen’s zwar ungern; durften ab nichts sagen, aus Furcht sie könnten sich versündigen. Der Bätbeele war ihr Lehrer, ein grosser langer Mann, der sich nut vom Kuderspinnen und etwas Allmosen nährte. In Scheftenau war fast in jedem Haus eins, das ihm anhing. Meine Grossmutter nahm mich oft mit zu diesen Zusammenkünften. Was eigentlich da verhandelt wurde, weiss ich nicht mehr; nur so viel, dass mir dabey die Weil verzweifelt lang war. Ich musste mäuslinstill sitzen, oder gar knien.
Bräker/Lebensgeschichte VI.
Der Bätbeele war nicht der einzige Prediger im Toggenburg. Denn es war Mode geworden hierzulande, separate, von der offiziellen Landeskirche unabhängige geistliche Sitzungen abzuhalten, nicht in den Kirchen, sondern privat in den Firstkammern mancher Bauernhäuser in der ganzen Talschaft, einmal die Woche. Und eben, nicht der amtlich eingesetzte Pfarrer, sondern ein Laie, theologisch nicht ausgebildet, dafür im Herzen erweckt, predigte, betete und sang mit seinen Schäfchen – heute würde man sagen: Fans – , und zwar im Geist einer religiösen Strömung, welche, von Deutschland ausgehend, auch die Schweiz erreicht hatte und hier weite Teile der reformierten Landbevölkerung erfasste, das Tösstal, das Emmental, das Schaffhausische, das Appenzeller Vorderland und eben auch das Toggenburg. Diese Strömung ging von Herrnhut aus, sie nannte sich Herrnhuter Brüdergemeine, deren Anhänger sich Brüder und Schwestern nannten. Neben Herrnhut entwickelten sich jedoch bald auch andere derartige Gemeinschaften – sie lassen sich zusammenfassen mit dem Begriff Pietismus.
Wichtig war, die religiösen Inhalte wieder mehr emotional erleben zu lassen, weniger vom Kopf als vom Herzen her, ganz nach dem Satz:
Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,
Wenn es nicht aus der Seele dringt
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Und dies mit Hilfe von Sinnlichkeit. Dazu gehörte nun als Element die Musik. Es gab pietistische Liedsammlungen, berühmte Lieddichter wie Paul Gerhardt oder Niklaus Graf von Zinzendorf, der über 2000 geistliche Lieder verfasst hatte, es gab Posaunenchöre, und es gab die Orgel. In Herrnhut zeigte man mir ein Haus mit einem Gartenpavillon, worin damals eine Orgel gestanden habe (Herrnhut liegt in der Lausitz, östlich von Dresden nahe der böhmisch/polnischen Grenze).
Über den Pietismus kam die Orgel in unsere Häuser. Über den Pietismus ist die Musik wieder in die zwinglianische Kirche zurückgekehrt. Im Toggenburg schon im 18. Jahrhundert, in Zürich erst ein Jahrhundert später, die älteste bekannte Toggenburger Hausorgel datiert von 1754, diese hier stammt aus dem Jahr 1788. Sie verstehen, Hausorgeln dienten im Toggenburg ursprünglich rein geistlichem Gebrauch.
Jost Kirchgraber
100 Sekunden Orgelwissen, vorgetragen im Rahmen einer Sommerveranstaltung von Windbläss in der Webstube Büel bei Nesslau am 14. August 2009.