100'' Orgelwissen von Matthias Hugentobler, vorgetragen am 9. März 2018 in der Webstube Bühl zu Nesslau
... oder vielleicht eher 100 Sekunden Gedanken, welche einem bergsteigenden Orgelbauer durch den Kopf gehen – sei es in der eher freizeitbezogenen, alpinen Umgebung, wie aber auch im Würgegriff des beruflichen Alltags – dann einfach im sakralen und orgelbauerischen Umfeld.
Dabei stosse ich, wie so oft auch in den verschiedensten Gegebenheiten des Lebens, immer wieder auf Parallelen und Verbindungen.
Es ist durchaus amüsant zu beobachten, welche Wörter sich in der lieben Welt mit dem Wort Orgel verbinden und damit die Orgel zuweilen recht weit von ihrem eigentlichen Wesen wegführen.
Welche Kriterien sind es, welche unsere Assoziationen mit dem Instrument Orgel in Verbindung bringen?
Möglicherweise ist es die Reihung ähnlicher Elemente nach einem gewissen Ordnumgsprinzip.
Eben – ähnlich der Pfeifenreihen eines Orgelprospektes, oder eines Registers auf dem Pfeifenstock.
Und solche Gebilde und Formationen finden sich an vielen Orten in der Natur.
So auch in, und eben auch unter den Bergen.
Der Pass dels orgels im schönen Ela-Gebiet zum Beispiel, oder etwas weiter weg, die Basalt-Phonolyt-Orgeln in Südfrankreich bei Bort-les- orgues, oder die Orgelfelsen von Kameniki Senov in Nordböhmen, um nur einige wenige davon zu nennen. Je nach Art des Gesteins sind die Strukturen tatsächlich denen eines Orgelprospektes ähnlich.
Wenn ich mit meinem sehr geschätzten Berg- und Berufskollegen Markus hie und da auch die Erdoberfläche verlasse, um uns euphorisch unserer sub-terralen Leidenschaft hinzugeben, werden wir selbst auch dort fündig. Tropfsteingruppen wie die Pedaltürme zu St. Jakobi in Hamburg oder Sinterkaskaden wie hochbarocke Spiegelfelder, wecken in uns Gedanken an einen monumentalen, vielleicht eher norddeutschen Orgelprospekt. Wälder von Sinterröhrchen erinnern an mehrchörige Mixturen. Gelegentlich haben wir eine derart mystische Szenerie, bereits etwas unterkühlt im Höhlensee schwimmend, mit einem bach’schen Choral vollkommen gemacht. Zweistimmig vokal, mit meist schlotterndem oder schnaufendem Akzent.
Geschlottert wird übrigens auch über der Erdoberfläche.
In den Kletterrouten des Alpsteins zum Beispiel. Wenn der Wind mit uns gemeinsam an den Graten und Felsen der Kreuzberge herumturnt und den Fingern, das für’s Klettern so nötige, Feingefühl raubt.
Diesmal ist es jedoch nicht der Orgelwind, welcher dafür verantwortlich ist.
Dieser könnte uns mit seinen bescheidenen, durchschnittlich etwa 70 mm WS das Klettervergnügen nämlich kaum verderben.
Es ist viel mehr der Biswind, welcher hier ganze Arbeit leistet und zumindest bei mir schnell einmal an den Nerven zerrt.
Der Berg ist die Orgel des Windes, welcher uns eine kalte Ohrfeige gibt.
Das habe ich kürzlich so gehört. Nicht ganz falsch.
Bei derart unwirtlichen Bedingungen ziehe ich dann eine echte Orgelkletterei doch vor. Reine Genusskletterei im vierten bis fünften Grad, am oder hinter dem Orgelprospekt an Rastern und Gebälk, gedeckt und windgeschützt. Gipfelziel: der Diskant des über dem Pfeifenwald des Hauptwerkes aufgebänkten Cornettes, welcher durch seine Verstimmung mehr schreit als hornt.
Nicht selten ist dieses filigrane Klettervergnügen zwar mit brüchigen Passagen durchsetzt, dafür aber vom ersten bis zum letzten Schritt bezahlt.
Matthias Hugentobler, in St. Gallen aufgewachsen und jetzt im Ausserrhodischen (Stein) verwurzelt.
Primär als Orgelbauer tätig (gelernt bei Späth in Rapperswil und heute für die Firma Kuhn als Gebietsvertreter Ostschweiz tätig), immer wieder aber auch als älpler (Käser) aktiv, folgte dem Ruf als Dozent an das landwirtschaftliche Kompetenzzentrum Plantahof, Abteilung Käseherstellungstechnologie unter erschwerten Bedingungen mit alpinen bis hochalpinen Rahmenbedingungen, ist vom Wasser fasziniert, sei es in den Labyrinthen von wasserführenden Höhlensystemen, als Brunnenspezialist der heimatlichen Wasserversorgung, beim Fischen oder beim Tauchen und Schnorcheln in süssen und salzigen Gewässern. Auch als Alpinist ist Matthias unterwegs: im Winter mit den Tourenski und im Sommer kletternd in den steilen Wänden des Alpsteins und der Churfirsten.
Der Vielseitigkeit noch nicht genug. Als Musiker spielt er die - ausnahmsweise zweite - Geige bei der Steichmusik ZündAPP, singt mit allmählich zum Bariton absinkender Tenorstimme in Vokalensembles mit und beschäftigt sich organistisch mit den grossen Bachwerken - ganz für sich allein, ohne Öffentlichkeitsanspruch.
Orgelbau verlangt Vielseitigkeit – Matthias Hugentobler ist die personifizierte Potenzierung dieser Eigenschaft!