100" Orgelwissen Samson Scherrer von Markus Meier, vorgetragen am 20.08.2021 in der Kirche Nesslau
Samson Scherrer – ein Nesslauer Orgelbauer zieht nach Genf
Dass Samson Scherrer (1698–1780), einer der wichtigsten schweizerischen Orgelbauer des 18.
Jahrhunderts, der es sogar zu internationalem Ansehen bringt, aus Nesslau stammt, dürfte kaum
noch bekannt sein – umso mehr der Veranlassung also, ihn wieder ins Bewusstsein eines kul-
turhistorisch interessierten Publikums zurückzurufen.
Gäbe es dafür einen stimmigeren Ort als die Kirche zu Nesslau? Ja und nein – denn
einerseits ist Nesslau zwar Scherrers Geburtsort und Heimat aber andererseits bietet ihm das
Toggenburg kaum orgelbauerische Perspektiven, was den etwa 25jährigen ambitionierten
Kunsthandwerker dazu zwingt, das Tal zu verlassen. In beruflicher Mission wird er nie mehr
zurückzukehren. Die im Toggenburg des 18. Jahrhunderts trüben Aussichten auf Orgelbauauf-
träge, insbesondere für reformierte Orgelmacher, sind einerseits dem Umstand geschuldet, dass
die zwar mehrheitlich reformierte Bevölkerung der Kontrolle und Willkür der Fürstabtei St.
Gallen – mit dem Kloster Neu St. Johann als Aussenposten – ausgesetzt und die Installierung
von Orgeln in den meist paritätisch genutzten Kirchen dem bestimmenden Fürstabt kein dring-
liches Anliegen ist – im Gegenteil! Andererseits wirkt noch immer das von Zwingli verhängte
Orgelverbot nach, das die Zürcher Obrigkeit weiterhin durchzusetzen versucht. Der «Orgelge-
genwind» ist somit von den Wächtern beider Konfessionen – von den reformierten eher noch
restriktiver als von den katholischen – zu verspüren. Einzig die «Sparte Hausorgelbau» bietet
Aufträge. Dieser Bereich wird im Toggenburg beinahe ausschliesslich von Vater und Sohn
Looser bewirtschaftet und von diesen auch selbstherrlich verteidigt.
So ist erklärbar, dass Samson Scherrer – nach Höherem strebend, als Hausorgeln zu
bauen – keine Spuren im Toggenburg hinterlässt und somit unserer kulturellen Wahrnehmung
zu entschwinden droht.
Der junge und offensichtlich unerschrockene Orgelbauer zieht nach Bern, wo er zusam-
men mit einem Berufskollegen ohne Auftrag (!) ein grosses dreimanualiges Orgelwerk mit 33
Registern errichtet. Seine Absicht ist es, dieses Instrument in der Neèw erbauwten Spithal Kir-
chen (heute Heiliggeistkirche, unmittelbar beim Bhf. Bern) zu installieren, was aber vom Rat
abgelehnt wird. Samson Scherrer – wohl empfindlich gedemütigt – bricht seine Zelte 1730 in
Bern ab und reist noch weiter westwärts nach Lausanne, wo er die mitgebrachte Orgel in der
Kathedrale endlich aufstellen darf. Dieses Instrument versieht bis 1901 seinen Dienst, bevor es
einer Nachfolgeorgel (Kuhn 1903) weichen muss.
Scherrer lässt sich ab etwa 1735 in Genf nieder, was nicht ganz nachvollziehbar scheint,
denn in der calvinistisch geprägten Stadt ist die Zeit für Orgelbauten noch nicht reif. Erst 1756
wird die Orgel wieder zugelassen und er weicht mit seinen Aktivitäten vorerst nach Frankreich,
in die Region Dauphiné, aus. Nach der Aufhebung des Orgelverbots bietet sich ihm 1757 die
Chance, in der Kathedrale St-Pierre die erste nachreformatorische Orgel der Stadt Genf zu er-
richten. 1763 folgt eine zweite im Temple de la Fusterie.
In den 1770er und 1780er Jahren wirkt Scherrers jüngster Sohn Nicolas (um 1747–
1827) – auch er Orgelbauer aber wahrscheinlich hauptsächlich als Organist, Cembalist und
Komponist tätig – an diesen beiden Kirchen. Es darf angenommen werden, dass sich der eben-
falls zu dieser Zeit in Genf wirkende Geiger und Komponist Gaspard Fritz (1716–1783) und
Nicolas Scherrer gekannt und vermutlich auch zusammengearbeitet haben, zumal die musika-
lischen Aktivitäten in der Stadt Genf überschaubar gewesen sein müssen. Denn Charles Burney
(1726–1814), der berühmte englische Musikwissenschaftler, der Genf 1770 besucht, schreibt
dazu: «Man hört nur sehr wenig Musik hier: in den Theatern darf keine Musik gespielt werden;
auch gibt es in den Kirchen keine Orgeln, ausser zweien [nämlich St-Pierre und Fusterie], die
nur für die Begleitung von Psalmengesängen im reinsten Stil Jean Calvins benutzt werden; Herr
Fritz, ein guter Komponist und ausgezeichneter Geiger, ist jedoch noch am Leben; er wohnt
hier seit nahezu dreissig Jahren und ist allen englischen Musikliebhabern, die Genf während
dieser Zeit besucht haben, sehr wohl ein Begriff.»
Dass auch der damals etwa 23jährige Nicolas Scherrer hier tätig ist, scheint Burney nicht zur
Kenntnis genommen zu haben – vermutlich steht der Sohn Samsons gleich in zweifacher Hin-
sicht im Schatten: einerseits als Orgelbauer hinter seinem berühmten Vater und ältesten Bruder
Louis (*1731 in Bern) und andererseits als Musiker in jenem seines 30 Jahre älteren und be-
kannteren «Stadtkonkurrenten» Gaspard Fritz. Der Musikwissenschaftler Andreas Waczkat
(MGG-online) bezeichnet Scherrers Kompositionen denn auch mit leicht despektierlichem
Unterton als «handwerklich sauber gearbeitete Kammermusiken von eher kleinerem Zu-
schnitt, deren Form noch an barocke Muster erinnert, deren Satz aber deutlich den galanten
Stil anklingen lässt.» Immerhin kommt Scherrer die Ehre zu, zeitweilig den Erbprinzen Fried-
rich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin (1756/1785–1837) im Clavierspiel zu unterrichten.
Markus Meier, 20. August 2021